Podiumsdiskussion - Oberstufenschüler befragen Europaabgeordneten Dr. Michael Gahler zu aktuellen Themen
"Quo vadis, Europa?" Wohin geht die Reise in der Europäischen Union? Wo liegen die zentralen Probleme? Welche Herausforderungen müssen in den kommenden Monaten und Jahren gemeistert werden, um die Gemeinschaft stabil zu halten? Das wollten die Oberstufenschüler des Goethe-Gymnasiums gestern vom hessischen Europaabgeordneten Michael Gahler (CDU) wissen.
Die Themen: Wirtschaft, Währung und Wachstum der EU. Es ging um Populismus, Protektionismus und die Chancen zu einer Reform der Union. Im Auditorium saßen Schüler aus der Jahrgangsstufe Q3 und einer neunten Klasse, die sich an der Diskussion beteiligt haben. Es moderierten die Schüler Janine Ecker, Helena Störck und Simon Kaffanke. Als Europaschule stehe man oft und gern in Kontakt mit der Politik, sagte Goethe-Schulleiter Klaus Holl zu Beginn der Veranstaltung in der gut besuchten Mensa, wo sich der gebürtige Frankfurter den Fragen der Jugendlichen gestellt hat. Was bewegt die Schüler?
Historisch schwierige Situation
Der in Europa grassierende Populismus sei ein Weckruf für die traditionellen Parteien, sagte Gahler in Bensheim. Dass die AfD mit 12,6 Prozent als drittstärkste Kraft in den Bundestag eingezogen ist, kommentierte er als besorgniserregend. "Wir dürfen das nicht einfach akzeptieren." Man müsse den Menschen, die sie gewählt haben, die Wahrheit über Deutschland näher bringen statt sie mit einfachen Antworten auf komplexe Themen zu verführen.
Die Tatsache, dass die AfD vor allem in strukturschwachen Regionen und eher von bildungsschwachen Schichten gewählt würde, müsse unter anderem dazu führen, dass der Staat künftig mehr in politische Bildung investiert. Gahler wünscht sich eine neue Form der Staatsbürgerkunde im Schulunterricht. Natürlich nicht im Sinne einer ideologischen Früherziehung, wie das in der DDR üblich gewesen war, wo der Begriff seinen negativen Tonfall erhalten hat. Er plädiert für eine politisch-rechtliche Grunderziehung von Anfang an.
Aber auch auf europäischer Ebene sei die Situation historisch schwierig. Die autoritären Regierungen in Ungarn und Polen stellen unverhohlen die Demokratie infrage. Und das innerhalb der eigenen Grenzen der EU, die ganz klar auf spezifischen Werten aufgebaut sei, so der Abgeordnete.
Gegen Polen hat die EU-Kommission vor einiger Zeit ein sogenanntes Rechtsstaatsverfahren eingeleitet. Anlass waren die Angriffe der polnischen Regierung auf das Verfassungsgericht. Neben institutionellen Sanktionen sei eine weitere Reaktion darauf auch eine reduzierte Kooperation innerhalb des europäischen Parlaments. "Die EU funktioniert nur, wenn der Rechtsstaat Respekt vor der Demokratie hat und umgekehrt."
Wäre ein unabhängiges Katalonien in der EU?
Nein, sagt Michael Gahler. Denn ein Ziel der EU sei es, Grenzen abzubauen und nicht neue aufzubauen. Die katalanische Regierung verhalte sich klar verfassungswidrig. Der Parlamentarier geht davon aus, dass bei den Neuwahlen am 21. Dezember eine verfassungstreue Mehrheit der wahlberechtigten Bevölkerung für den Verbleib bei Spanien votieren werde. In der ersten Abstimmung hatten sich bei 42 Prozent Wahlbeteiligung 90 Prozent der Katalanen für eine Unabhängigkeit ausgesprochen. "Das Referendum repräsentiert keine Mehrheit", so Michael Gahler. Im Übrigen sei die EU als Vermittler im Katalonien-Konflikt nicht neutral, weil sie für die Verfassung stehe und damit auf der Seite der spanischen Regierung. Die EU verstehe sich als Zusammenschluss souveräner Nationen. Immer wieder wird betont, bei der Krise handele es sich um eine "innere Angelegenheit Spaniens". Gahler sieht das genauso.
Bleiben für Erdogans Türkei die Türen verschlossen?
Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind noch offiziell abgebrochen. Richtig voran geht es aber auch nicht. Das Thema liegt auf Eis. "Einen Beitritt halte ich für derzeit nicht möglich", so Michael Gahler. Das Land entwickle sich in die falsche Richtung, damit wachse die Distanz von europäischen Standards und Werten. "Der Rechtsstaat ist in weiten Bereichen außer Kraft." Was selbst innerhalb von EU-Staaten höchst kritisch gesehen wird, könne bei einem Beitrittskandidaten nicht weniger schwer wiegen. Der Dialog mit Ankara solle aber weitergeführt werden. Nicht zuletzt deshalb, um die bestehende Zollunion nicht zu gefährden. Deren ursprünglich geplante Ausweitung ist allerdings derzeit kein Thema: Die Bundesregierung hat das dazu nötige EU-Mandat blockiert.
Welche Beitrittskandidaten haben eine Chance?
Schlange stehen auf dem Balkan: Allein ein halbes Dutzend Kandidaten will in die EU. Montenegro, Serbien und Albanien sind aussichtsreiche Beitrittskandidaten. Bosnien hat seinen Antrag gestellt auf eine Beitrittskandidatur. Mazedonien bemüht sich gerade, den ewigen Streit um die Bezeichnung des Landes mit Griechenland beizulegen. Aus das Kosovo klopft an. "Eine EU-Erweiterung führt zu noch mehr Stabilität", glaubt Michael Gahler, der für einige Balkanstaaten eine Perspektive sieht - falls diese es schaffen, ihre inneren Probleme zu lösen. Doch nach dem Brexit scheint die Aufnahme zahlreicher Neumitglieder ohnehin schwierig. Denn auch die Ukraine, Moldawien und Georgien streben nach Westen, während Aserbaidschan, Armenien und Weißrussland eher einen Ostkurs eingeschlagen haben. Für dieses Trio sieht Gahler derzeit kaum eine Chance.
© Bergsträßer Anzeiger, Samstag, 11.11.2017