Bensheimer Schüler erforschten Schicksale jüdischer Familien
Sichtlich gerührt und emotional aufgewühlt bedankte sich Marc Kaman, Enkel von Erna Rohrheimer, bei den Schülerinnen und Schülern der Geschichtswerkstatt des Goethe-Gymnasiums, dass sie die Erinnerung an seine Großmutter Erna wieder erweckt und transparent gemacht haben. Bis dato habe er nur wenig über deren Lebensweg und Schicksal gewusst. Er besitze zwar einige Fotos, habe aber nicht gewusst, um wen es sich bei den darauf abgebildeten Personen handelt.
Erna Rohrheimer, frühere Schülerin des Goethe-Gymnasiums (damals noch Höhere Töchterschule), war 1938 mit ihrem Vater Eduard und zahlreichen jüdischen Emigranten vor den Nazis mit dem legendären Transatlantik-Passagierschiff St. Louis von Hamburg aus in die USA geflüchtet. Cedric (17) von der Geschichtswerkstatt hat ihren Lebensweg anhand von Dokumenten bis ins Detail recherchiert: „Von New York aus sind Erna und ihr Vater ins German Town nach Philadelphia gezogen, wo sie zunächst in einem Restaurant gearbeitet hat.“
Aus Philadelphia angereist
Zusammen mit seiner Ehefrau Jo Buyske war Marc Kaman aus Philadelphia angereist, um bei der Verlegung von Stolpersteinen für seine Großmutter und deren Vater Eduard durch den Künstler Gunter Demnig vor dem ehemaligen Haus in der Rheinstraße in Lorsch dabei zu sein und die Menschen kennenzulernen, die seine Wurzeln offengelegt haben. Wie sehr dem Enkel von Erna Rohrheimer das Schicksal seiner Vorfahren unter die Haut geht, wurde beim Gespräch des Ehepaars mit den Schülern deutlich. „Seit er mehr über seine Familie weiß, hat er sich sehr verändert“, sagte Jo Buyske über ihren Ehemann.
Geplant und initiiert hat das Erinnerungsprojekt mit der Verlegung von Stolpersteinen für ehemalige jüdische Schülerinnen und deren Familien die Schulleitung des Goethe-Gymnasiums anlässlich des 150. Jubiläums im Schuljahr 2021/22. Schulleiter Jürgen Mescher und Projektleiter Florian Schreiber begrüßten die Gäste aus den USA nach einem gemeinsamen Besuch der Synagoge in Hemsbach und dem Friedhof in Alsbach im Schulhof. Dort waren neben einer Gedenksäule 16 weitere Stolpersteine für die Familien von Carry Moos, Gertrud Bendheim-Seeberg und Ruth Löb aufgestellt. Für sie wird in den kommenden Wochen vor deren früheren Wohnadressen in Bensheim jeweils ein Gedenkstein verlegt. Erster Termin ist am 21. September in der Darmstädter Straße.
Kein Laut war zu hören, als Oberstufenschülerin Magdiel (17) beim Empfang von Marc Kaman und Jo Buyske in einwandfreiem Englisch vom Lebensweg einer anderen jüdischen Schülerin, Gertrud Bendheim, deren Eltern, Geschwister und Familienangehörige berichtete. Vater Zacharias wurde in Auschwitz ermordet, das gleiche Schicksal traf Gertruds Schwester Alice, deren Ehemann Ludwig und deren beide Kinder in Sobibor und Auschwitz. Gertrud Bendheim floh zunächst nach Frankreich, danach nach Portugal und in die USA. Dort starb sie 2012. Magdiel ist nach wie vor in Kontakt mit den Töchtern von Gertrud Bendheim.
Nach derzeitigem Erkenntnisstand und den intensiven Nachforschungen der Jugendlichen sind es insgesamt 16 jüdische Familien aus Bensheim, Lorsch, Einhausen, Bürstadt und Alsbach mit an die 75 Personen, die in Lager deportiert wurden, fliehen mussten oder ermordet wurden. Nach deren Namen und Schicksale haben die Mitglieder der Geschichtswerkstatt zwei Jahre lang ganz gezielt im Schularchiv anhand von Zeugnislisten der Ex-Schülerinnen und später im Internet gesucht. Sie haben Angehörige – von denen die meisten heute in den USA leben – ausfindig gemacht und Kontakt mit ihnen aufgenommen.
„Wichtiger Tag für starkes Projekt“
In vielen Fällen schickten die Goethe-Schüler frühere Zeugnisse von Eltern oder Großeltern an die Nachkommen und erhielten im Gegenzug Informationen, Fotos und teils sogar Videos aus dem Familienbesitz. Bei den ersten Anfragen und Informationen aus der Schule sei er sehr skeptisch gewesen und vermutet, dass man ihn aushorchen wolle, sagte Marc Kaman. Seine Bedenken seien aber schnell verflogen.
„Heute ist ein wichtiger Tag für ein starkes Projekt“, so Schulleiter Mescher beim Besuch des Ehepaars Kaman/Buyse im Goethe-Gymnasium. Er sprach weiter von einem „sehr bewegenden Moment“ und dankte den Schülern, dass sie ein Stück Geschichte „wieder hergestellt und Namen mit Leben verbunden haben.“ Danke sagte auch Marc Kaman mit brüchiger Stimme „für die Erinnerung und die Mühe, die Sie sich gemacht haben.“ Als ihm Schüler ein altes Zensurenheft mit dem Namen seiner Großmutter vorlegten, rang er einmal mehr um Fassung.
Um das Erinnerungsprojekt auf sichere Füße stellen und finanzieren zu können, hatte die Geschichtswerkstatt Patenschaften an Klassen und Kurse aller Jahrgangsstufen, an Eltern, Lehrer, Schulleitung, Schülervertretung, Schulelternbeirat, Förderverein, Fachschaften, Angehörige in den USA und umliegende Kommunen vergeben. Insgesamt beteiligen sich an dem Projekt, das laut Florian Schreiber weitergeführt wird, an die tausend Personen.