Stolpersteine – mehr als eine mahnende Erinnerung
Im Diwan-Gespräch ging es nochmals um das vielbeachtete Projekt zum 150-jährigen Schuljubiläum
63 Stolpersteine ließ die Schulgemeinde des Goethe-Gymnasiums im Jahr 2022 verlegen, um den ehemaligen jüdischen Mitschülerinnen und ihrer Familien zu gedenken, die durch Vertreibung oder Ermordung Opfer der nationalsozialistischen Diktatur geworden waren.
Allein die Menge der durch Gunter und Katja Demnig in so kurzer Zeit verlegten Stolpersteine beeindruckt, denn normalerweise gibt es dafür eine jahrelange Warteliste. Außergewöhnlich war aber auch der Anlass: Die Schule feierte so ihr 150-jähriges Jubiläum und nicht nur viele Mitglieder der gesamten Schulgemeinde – unter anderem viele Schulklassen, Lehrer und der Förderverein – hatten mit der Übernahme von Patenschaften zur Finanzierung der Aktion beigetragen, sondern auch Kommunen wie Lampertheim und Bürstadt.
Vor den Sommerferien endete die Aktion mit einem berührenden Abschlussabend, zu dem etliche Nachkommen der einstigen Schülerinnen gekommen oder per Video dem Geschehen zugeschaltet waren.
„Stolpersteine – Mahnende Erinnerung oder Neubeginn?“ war nun ein Vortrags- und Diskussionsabend in der Bibliothek des Goethe-Gymnasiums überschrieben, mit dem am Dienstagabend die Tradition der regelmäßigen Diwan-Gespräche weitergeführt wurde. Florian Schreiber, Lehrer für Geschichte an der Schule und Initiator des Projekts, erläuterte die Hintergründe der Idee, die Entstehungsgeschichte und die bisher erkennbaren Folgen.
Bei einer Stolpersteinverlegung im Jahr 2016 für Familie Oppenheimer, die in der Bensheimer Rodensteinstraße 106 gewohnt hatte, hatte es erste Kontakte mit Angehörigen gegeben, die zur Verlegung gekommen waren. 2017 wurde im Pausenhof eine Gedenksäule mit Mosaiksteinen gestaltet, die den damaligen „Forschungsstand“ der Schule zusammenfasst.
Im Jahr 2020 hatte Schreiber dann die Idee, aus Anlass des bevorstehenden Schuljubiläums die Recherchen zu intensivieren und für alle betroffenen Familien Stolpersteine verlegen zu lassen – realisiert wurde das dann in Bensheim wie in Lampertheim, Bürstadt, Lorsch, Alsbach-Hähnlein und Darmstadt.
Die schon vor einigen Jahren aus alten Schulakten ermittelten 24 jüdischen Mitschülerinnen stammten aus 21 Familien, von denen fünf nicht für das Projekt in Frage kamen, zum Beispiel weil an deren letztem Wohnort in Deutschland schon Stolpersteine verlegt worden waren, oder weil, wie in Zwingenberg, dort nur Stolpersteine für in der Nazizeit ermordete Menschen verlegt werden sollen, nicht aber für Überlebende.
Facebook und Google als Quellen
Doch wie kamen die Schülerinnen und Schüler überhaupt zu ihren Informationen, obwohl die Recherche letztlich nur vor Ort, also in der Schule und ohne den Besuch von Archiven möglich war? Zwar besorgte Schreiber mitunter auch Unterlagen aus Archiven, doch waren die Hauptarbeitsmittel der Austausch per E-Mail und die Internetrecherche, etwa über Ahnenforschungsportale, Adressbücher und veröffentlichte Nachrufe und Todesanzeigen.
Google und Facebook erwiesen sich ebenfalls als wertvolle Informationsquellen, zumal der Datenschutz in den USA nicht besonders streng betrieben wird. Kontakt zu den ermittelten Nachkommen nahmen die Schülerinnen und Schüler dann ausschließlich per E-Mail auf, ein Anruf in dieser hochemotionalen Angelegenheit wäre, wie Florian Schreiber sagte, übergriffig gewesen.
Es folgte in vielen Fällen der Austausch von Päckchen mit Zeugnisabschriften und im Gegenzug mit Abzügen von Familienfotos, die mit auf die Flucht genommen worden waren und nun den Ermordeten und Vertriebenen auch hier wieder ein Gesicht geben. Viele der Nachkommen waren erstaunt, dass sich in Deutschland überhaupt noch Menschen an ihre Vorfahren erinnern. Es zeigte sich aber auch, dass einerseits viele Familien noch deutsch geprägt seien – „sie blieben in ihren Herzen deutsch“, sagte Schreiber – während in anderen sowohl über das Erlittene als auch über die Heimat geschwiegen wurde.
„Die unerwartet große Resonanz und die fast beschämende Dankbarkeit bei den in den USA ermittelten Familien beruhe sowohl auf dem großen Engagement der jungen Deutschen als auch auf deren biografischen Abstand zum Geschehen, sagte Schreiber – er bezweifelte, dass er selbst ebenso positive Reaktionen erzielt hätte. In der Gesprächsrunde wurde vielfach Respekt für die große Leistung der Schülerinnen und Schüler geäußert.
Die vorangegangenen Generationen hätten Derartiges nicht geschafft – und erschreckend vieles nicht gewusst. Etwa, dass die eigene Schule in Darmstadt eine Sammelstelle für die Deportation der regionalen Juden war: „Wir haben Schwammschlachten gemacht, wo andere auf den Tod gewartet haben.“ Im Gespräch wurde auch deutlich, dass das Thema Stolpersteinverlegung noch immer als „dünnes Eis“ angesehen wird. „Der Holocaust war Raubmord“, sagte Schreiber und manche heutigen Hausbesitzer hätten Angst, damit in Verbindung gebracht zu werden.
Mit dem Jubiläumsjahr wird die Beschäftigung mit den ehemaligen jüdischen Mitschülerinnen aber nicht enden. Es gibt neue Projekte, darunter eine Recherche zu Karl Silberstein, dem Ehemann der ehemaligen Schülerin Helene Hochstädter, auf Bitten der in den USA lebenden Tochter. Ein besonders schwer zugängliches Projekt ist die Rekonstruktion der Geschichte von Edda Jonas, deren Ehemann Max deportiert und ermordet wurde.
Die Söhne wurden nach London in Sicherheit geschickt. Sie selbst aber blieb in Deutschland, täuschte Selbstmord vor und floh mit einem Theaterdirektor mit dem Künstlernamen Ferry Werner. Unter falschem Namen lebte sie in Rottach-Egern und in München, später auch wieder in Bensheim, wo sie 1997 starb. Sie soll noch in hohem Alter nicht auf ihre Stöckelschuhe verzichtet haben, so der Bericht eines hiesigen Zeitzeugen. Die mit dem Projekt befasste Schülerin hofft auf weitere Informationen.