Bensheimer Geschichte von Flucht und Vertreibung

Fast gehört er schon zum Straßenbild, der rote Lieferwagen von Gunter und Katja Demnig. Beide waren in den vergangenen Jahren schon häufiger an der Bergstraße, um mit ihrem Projekt „Stolpersteine“ das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus an deren ehemaligen Wohnstätten zu unterstützen.

In diesem Jahr kommen die Demings besonders häufig nach Bensheim, denn das Goethe-Gymnasium hat sich entschieden, auf die Herausgabe einer Festschrift anlässlich seines 150-jährigen Bestehens zu verzichten und stattdessen Stolpersteine für alle ehemaligen Schülerinnen und deren Familien verlegen zu lassen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden. Etwa 25 ehemaliger Schülerinnen und deren Familien, insgesamt etwa 70 Personen, kann so durch im Pflaster verlegte Gedenksteine gedacht werden.

Die Basis des Projekts sind Recherchen der „Werkstatt Geschichte“, eines Kurses der 10. Klassen unter Regie von Geschichtslehrer Florian Schreiber. Waren im Februar schon Stolpersteine unter anderem in der Postgasse und in der Darmstädterstraße verlegt worden, so hatte sich am Mittwochvormittag eine Gruppe von gut dreißig Personen zunächst vor dem Hotel Bacchus versammelt – eine Gruppe, die zeige, wie weit das Jubiläumsprojekt auch außerhalb der Schule die Gemeinde bewege, sagte Schulleiter Jürgen Mescher und begrüßte neben den aktiven Schülerinnen, Schülern und Lehrenden auch mehrere Ehemalige, Politiker und Vertreter lokaler Initiativen.

Stadtrat Adil Oyan, in Vertretung der Bürgermeisterin, dankte der Schule für ihr Engagement und dem ehemaligen Stadtrat Peter Kalb, zugleich Mitglied der Geschichtswerkstatt Jakob Kindinger, für die Unterstützung bei den Recherchen.

Nicht nur die Verlegung der Steine selbst sei wichtig, sondern vor allem auch die Beschäftigung mit dem Schicksal der Menschen. „Das ist ein sehr wichtiges Zeichen des Gedenkens und Erinnerns an eine sehr, sehr dunkle Zeit“, sagte Oyan, die bewusst bleiben müsse, auch in Hinblick auf die Geschehnisse in der Ukraine.

Goethe-Schülerin Jana Meyer trug vor, was bei den Recherchen zu den Familien Adler und Meyer herausgekommen war, die einst in dem Haus gewohnt hatten, an dessen Stelle nun das Hotel Bacchus steht. Ausgehend von Irma Adler, die die Höhere Töchterschule, also das heutige Goethe-Gymnasium, in den 1920er Jahren besucht hatte, und deren Schwester Paula, zeichnete Jana Meyer eine Geschichte von Flucht und Vertreibung nach, in deren Verlauf eine junge Familie ihre beiden Kinder im Alter von drei und neun Jahren zurücklassen musste.

Für mehr als ein Jahr trennten sich Paula und ihr Mann von Sohn und Tochter, um zunächst allein in den USA Fuß zu fassen. Schließlich folgte die Schwester Irma mit ihrem Mann und endlich auch die beiden Kinder – die die weite Reise ganz allein machen mussten. Während der jüngeren Generation so die Flucht gelang, blieben Paulas und Irmas Eltern in Bensheim zurück. Der Vater sah 1938 keinen anderen Ausweg, als sich zu vergiften, während die Mutter daraufhin ihren Töchtern und Enkeln in die USA folgte.

Sie habe bei den Recherchen nicht nur viel über den Antisemitismus gelernt, sagte Jana Meyer, sondern auch, „wie viel man bei einer Flucht verliert: das Zuhause, sein altes Leben, seine privaten Sachen, aber am wichtigsten: seine Familie und Freunde“.

Begleitet von Rainer Michels auf der Klarinette verlegte Katja Demnig die Gedenksteine für die Familienmitglieder, direkt vor dem Eingang des Hotels Bacchus an der Bahnhofstraße, dessen Besitzer Klaus Bulling, wie Geschichtslehrer Florian Schreiber mit großem Dank vermerkte, die Aktion freundlich unterstützt hatte.

Auch in der Parkstraße 5 hatte früher eine Goethe-Schülerin gewohnt und dorthin zog die Gruppe gemeinsam direkt im Anschluss. Florian Schreiber und Schulleiter Jürgen Mescher fassten hier die – lückenhaften – Ergebnisse der Nachforschungen zur Familie von Moses Bendheim zusammen, der schon 1902 in die USA emigriert war und seit 1910 die amerikanische Staatsbürgerschaft hatte.

1914 heiratete er in Deutschland seine Frau Paula, doch lebten beide zunächst in New York, wo auch die beiden Kinder Edgar und Irma geboren wurden. Spätestens 1929 wohnte die Familie aber in Deutschland, denn Irma war von 1929 bis 1935 Schülerin am späteren Goethe-Gymnasium. 1933 bis 1935 stand die Familie mit einem Wohnsitz in der Parkstraße 5 im Bensheimer Adressbuch. Im Februar 1939 meldete die Familie sich ab und floh nach New York.

Die amerikanische Staatsbürgerschaft dürfte das Schicksal der Familie trotz aller Härten erleichtert haben, unterstellten die Referenten und zogen einen Vergleich mit den neun Familien, die zur Zeit von Irmas Einschulung ebenfalls Töchter an der Schule hatten: Vier der Väter waren zwischen 1933 und 1939 im KZ gewesen, zwei davon überlebten das nicht. Eine der Mütter tötete sich selbst, die Eltern von zwei weiteren Schülerinnen wurden im Holocaust ermordet.